Schrift oder die Zerstörung der Nacht


Schrift oder die Zerstörung der Nacht
06.06.2013
Schrift
Luidl charakterisiert in seinem Werk die Schrift als ein unablässiges Bemühen, das Licht einzufangen, mithin das Wissen aufzuhellen und es an die Stelle der älteren Form, der Bilder, zu setzten. Es waren zunächst die Bilder, mit und in denen der Mensch über Jahrtausende gelebt und sein Gedächtnis angefüllt hatte. Diese Bilder formten sich nicht nur aus dem Bewusstsein des hellen Lichtes der Sonne, sondern waren von der Nacht, dem Mond, geprägt. Mit der Schrift vermochte es der Mensch, sich über die Bilder der Nacht zu erheben und sich seinem ›Selbst‹ bewußt zu werden. Die Verehrung des Lichts oder der Sonne ist im Gegensatz zur Verehrung des Mondes patriarchal geprägt und steht in enger Verbindung zur Schrift. Im heutigen Medium des Film vermengt sich für den Betrachter Beides, der Tag und die Nacht, so Luidl.

›Das Licht, dessen physikalische Beschaffenheit wir immer noch nicht genau definiert haben, war von Anfang an der Gegenpol zur Finsternis. Nur besaßen beide zu Beginn weder den positiven noch den negativen Beiklang, der ihnen heute anhaftet. Wenn Thot, der ägyptische Gott der Schreiber und der Gelehrten, als Pavian die Sonne anbetet, so wird aus dem Licht die Erleuchtung. Doch wird dem Erleuchtungsgedanken auf ägyptischem Boden selbst ein anderer zur Seite gestellt, als nämlich Joseph, der Sohn Jakobs, seine Erkenntnis im Traum erhält, also nicht unter dem Licht der Sonne, sondern unter dem des Mondes. Hier scheinen noch einmal alte Strukturen auf, wird die Ahnung über das Wissen gestellt …Gehen wir des Weg weiter, so kommen wir zum griechischen Alphabet. Ihm liegt schon der physikalische Gedanke der Analyse bis hin zum Kleinsten zugrunde. Dieser Gedanke hat uns erzogen, und wir haben nach seiner Anweisung gehandelt, analysiert und zerlegt – konnte man doch alles wieder zusammenfügen wie bei den Buchstaben auch. So zerlegten wir nicht nur Blüten und Blumen, sondern auch Tiere und Menschen…‹

Und Luidl weiter:
›Alle wesentlichen Errungenschaften auf den Gebieten der Technik, der Physik und der Chemie sind auf dem Boden des griechisch-römischen Alphabetes entstanden. Sie sind es, die in weiten Teilen der Erde die Normen menschlichen Zusammenlebens diktieren, und zwar nach den Bedürfnissen der Technik und nicht nach denen des Menschen. Land, Wasser und Luft sind für sie Gebrauchs- und Verbrauchsartikel, sind Material. Gehen doch Material und Materie aus demselben Wortstamm hervor wie Mater oder Mutter … Wir haben die Nacht zurückgedrängt, wo es möglich war … Auch wenn wir die Wahrheit in den mythologischen Bildern leugnen, hier besitzen wir sie. Jeder, der sehen kann, kann sie sehen.‹

Foto: Guido Kasper, Mondlicht auf dem Wasser.
Der Formvergleich mit aramäischen Schriftzeichen ist verblüffend. Die aramäische Schrift wurde von den Aramäern um 900 v. Chr. aus der phönizischen Schrift entwickelt und legte den Grundstock für die meisten anderen semitischen Schriften.


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